Tyrannei der Mehrheit: Unterschied zwischen den Versionen

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Autor: [https://andreaskemper.org/ Andreas Kemper]
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Der Ausdruck '''Tyrannei der Mehrheit''' (auch: ''Tyrannei der Masse'') findet u. a. als [[Klassismus|klassistisches]] [[Diskurs#Aussage und Narrativ|Narrativ]] in den Diskursthemen [[Diskursthema Politik/Demokratie|Poltik/Demokratie]], [[Diskursthema Familie/Bevölkerung|Familie/Bevölkerung]] und [[Diskursthema Gewalt/Kriminalität|Gewalt/Kriminalität]] Anwendung.
Der Ausdruck '''Tyrannei der Mehrheit''' (auch: ''Tyrannei der Masse'') findet u. a. als [[Klassismus|klassistisches]] [[Diskurs#Aussage und Narrativ|Narrativ]] in den Diskursthemen [[Diskursthema Politik/Demokratie|Poltik/Demokratie]], [[Diskursthema Familie/Bevölkerung|Familie/Bevölkerung]] und [[Diskursthema Gewalt/Kriminalität|Gewalt/Kriminalität]] Anwendung.
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Das klassistische Narrativ ''Tyrannei der Mehrheit'' bezieht sich auf die Demokratie, die zu einer solchen werden könnte. Sehr früh und prominent schrieb Alexis de Tocqueville in seiner Publikation ''Democracy in America'' im 15. Kapitel vor der "Tyranny of the Majority". Allerdings war dies weniger eine konkrete Kritik eines bestehenden Zustandes der Demokratie in den Vereinigten Staaten als eine Warnung vor der Möglichkeit einer ''Tyrannei der Mehrheit'', was er im letzten Satz des Unterkapitels ''Tyranny of the Majority'' auch so kennzeichnete:
Das klassistische Narrativ ''Tyrannei der Mehrheit'' bezieht sich auf die Demokratie, die zu einer solchen werden könnte. Sehr früh und prominent schrieb Alexis de Tocqueville in seiner Publikation ''Democracy in America'' im 15. Kapitel vor der "Tyranny of the Majority". Allerdings war dies weniger eine konkrete Kritik eines bestehenden Zustandes der Demokratie in den Vereinigten Staaten als eine Warnung vor der Möglichkeit einer ''Tyrannei der Mehrheit'', was er im letzten Satz des Unterkapitels ''Tyranny of the Majority'' auch so kennzeichnete:
  "Ich behaupte nicht, dass die Tyrannei in Amerika heute häufig vorkommt; aber ich behaupte, dass es kein sicheres Hindernis dagegen gibt und dass die Ursachen, die die Regierung dort schwächen, eher in den Umständen und den Sitten des Landes als in seinen Gesetzen zu finden sind." ("I do not say that there is a frequent use of tyranny in America at the present day; but I maintain that there is no sure barrier against it, and that the causes which mitigate the government there are to be found in the circumstances and the manners of the country more than in its laws.")<ref>Alexis de Tocqueville: Democracy in America, letzter Satz im Unterkapitel ''Tyranny of the Majority'' im 15. Kapitel des 1. Bandes [http://xroads.virginia.edu/~Hyper/DETOC/1_ch15.htm Link]</ref>
  "Ich behaupte nicht, dass die Tyrannei in Amerika heute häufig vorkommt; aber ich behaupte, dass es kein sicheres Hindernis dagegen gibt und dass die Ursachen, die die Regierung dort schwächen, eher in den Umständen und den Sitten des Landes als in seinen Gesetzen zu finden sind." ("I do not say that there is a frequent use of tyranny in America at the present day; but I maintain that there is no sure barrier against it, and that the causes which mitigate the government there are to be found in the circumstances and the manners of the country more than in its laws.")<ref>Alexis de Tocqueville: Democracy in America, letzter Satz im Unterkapitel ''Tyranny of the Majority'' im 15. Kapitel des 1. Bandes [http://xroads.virginia.edu/~Hyper/DETOC/1_ch15.htm Link]</ref>
=== Sozialvertikale Zusammenhänge ===
Das klassistische Narrativ ''Tyrannei der Mehrheit'' ist in mehrfacher Hinsicht Bestandteil der [[Vertikalstruktur des Gesellschaftsbildes]]. Obschon der Tyrann als Herrscher normalerweise an der [[^]]Spitze der Gesellschaft verortet wird, stellt im Narrativ ''Tyrannei der Mehrheit'' paradoxer die [[^]][[Unterklasse]] die Herrschaft. Die Mehrheit wird hier gedacht als [[Massendemokratie|Demokratie der Masse]] und die [[^]][[Masse]] ist im Gegensatz zum [[^]][[herausragend|Herausragendem]] immer unten. Die Tyrannei [[^]]senkt die Bildung und führt entsprechend zum [[^]]Verfall der Gesellschaft.


== Äußerungen im Narrativ ''Tyrannei der Mehrheit'' ==
== Äußerungen im Narrativ ''Tyrannei der Mehrheit'' ==
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* 13.03.2014: [[Daniel Model]] lobt in einem Interview mit der [[Weltwoche]] das monarchistische Liechtenstein und äußert sein Missfallen am Mehrheitsprinzip der Demokratie in der Schweiz:
* 13.03.2014: [[Daniel Model]] lobt in einem Interview mit der [[Weltwoche]] das monarchistische Liechtenstein und äußert sein Missfallen am Mehrheitsprinzip der Demokratie in der Schweiz:
  „Die Demokratie in der Schweiz ist moralisch degeneriert und zum Vehikel einer sozialistischen Diktatur verkommen. Eine wie auch immer zusammengeschusterte Mehrheit schickt der Minderheit den Zahlungsbefehl und übt damit Gewaltherrschaft aus, welche die Freiheit des Einzelnen einschränkt, statt die Selbstbestimmung zu stärken. [...] Die demokratische Politkultur verabscheut das Elitäre und pflegt das Populäre, der Unternehmer pflegt das Elitäre zugunsten des Markterfolgs seines Unternehmens. Ich bin Unternehmer. [... Liechtenstein scheine hingegen eine] gesunde Balance von Demokratie und Monarchie aufzuweisen"<ref>Spieler, Martin (2014): „Landesstolz verkommt zur Illusion“. Interview mit Daniel Model, in: Weltwoche Nr 12 / 2014, zit. n. Internetpräsenz Modelhof: Presse, [https://modelhof.com/uploads/1/3/5/0/135061344/weltwoche_13.03.2014.pdf PDF]</ref>  
  „Die Demokratie in der Schweiz ist moralisch degeneriert und zum Vehikel einer sozialistischen Diktatur verkommen. Eine wie auch immer zusammengeschusterte Mehrheit schickt der Minderheit den Zahlungsbefehl und übt damit Gewaltherrschaft aus, welche die Freiheit des Einzelnen einschränkt, statt die Selbstbestimmung zu stärken. [...] Die demokratische Politkultur verabscheut das Elitäre und pflegt das Populäre, der Unternehmer pflegt das Elitäre zugunsten des Markterfolgs seines Unternehmens. Ich bin Unternehmer. [... Liechtenstein scheint hingegen eine] gesunde Balance von Demokratie und Monarchie aufzuweisen"<ref>Spieler, Martin (2014): „Landesstolz verkommt zur Illusion“. Interview mit Daniel Model, in: Weltwoche Nr 12 / 2014, zit. n. Internetpräsenz Modelhof: Presse, [https://modelhof.com/uploads/1/3/5/0/135061344/weltwoche_13.03.2014.pdf PDF]</ref>  
::(siehe auch Narrative: [[Dekadenz]], [[Elite]], [[Natürliche Hierarchie]])
::(siehe auch Narrative: [[Dekadenz]], [[Elite]], [[Natürliche Hierarchie]])


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* 31.12.2021: In der Zeitschrift [[Tychis' Einblick]] äußerte sich [[Marco Gallina]] zur Corona-Krise u.a. mit den Worten:
* 31.12.2021: In der Zeitschrift [[Tichys Einblick]] äußerte sich [[Marco Gallina]] zur Corona-Krise u.a. mit den Worten:
  „Warum neigt ausgerechnet die von Individualität und Autonomie gekennzeichnete Gesellschaft des 20. und 21. Jahrhunderts zum Totalitären? Die Neurose der gegenwärtigen Gesellschaft ist ein komplexes Phänomen, deren Ursache an dieser Stelle zu klären zu lange dauern würde, aber in ihren Grundmustern zuvorderst mit dem Verlust der christlichen Religion zusammenhängt, an dessen Stelle bis heute kein moralischer, institutioneller, philosophischer, gruppenspezifischer und Identität verleihender Ersatz getreten ist, allen Ersatzreligionen wie Nationalismus, Fortschrittsglauben, Kommunismus, Hedonismus und – seit neuestem – Klimarettung zum Trotz. Ihre mangelnde Substanz macht die Gesellschaften Europas ansprechbar für jedes Heilversprechen und jede Warnung vor der Apokalypse. Sie sind darüber hinaus aber auch von einer gesellschaftlichen und politischen Dynamik gekennzeichnet, bei der die Demokratie als Staatsform eine hochaktuelle Rolle spielt. Man kann den französischen Staatsmann Alexis Tocqueville daher nur bewundern, dass er mit der „Tyrannei der Mehrheit“ bereits 1840 ein vertrautes Konzept prophezeite […] Die Dekadenz des Staates – aber eben nicht staatlicher Macht – bedingt, dass kleinere Vergehen drakonischer Bestrafung unterliegen, große Verbrechen dagegen kaum mehr bewältigt werden können. 'Je ernster die Probleme, umso größer ist die Zahl der Unfähigen, die die Demokratie zu ihrer Lösung aufruft', sagt Nicolás Gómez Dávila. Die Gegenwart betont den hohen Wert des Individuums; sie sieht es im grundlegenden Antagonismus zum Totalitären. Doch die Tyrannei der Mehrheit offenbart das Gegenteil. Nicht die Gemeinschaft ist Ausgangspunkt des Kollektivs, sondern die Atomisierung. Es mutet paradox an: Freiheit und Demokratie sind Ursache des neuen Totalitarismus sanfter Prägung.“
  „Warum neigt ausgerechnet die von Individualität und Autonomie gekennzeichnete Gesellschaft des 20. und 21. Jahrhunderts zum Totalitären? Die Neurose der gegenwärtigen Gesellschaft ist ein komplexes Phänomen, deren Ursache an dieser Stelle zu klären zu lange dauern würde, aber in ihren Grundmustern zuvorderst mit dem Verlust der christlichen Religion zusammenhängt, an dessen Stelle bis heute kein moralischer, institutioneller, philosophischer, gruppenspezifischer und Identität verleihender Ersatz getreten ist, allen Ersatzreligionen wie Nationalismus, Fortschrittsglauben, Kommunismus, Hedonismus und – seit neuestem – Klimarettung zum Trotz. Ihre mangelnde Substanz macht die Gesellschaften Europas ansprechbar für jedes Heilversprechen und jede Warnung vor der Apokalypse. Sie sind darüber hinaus aber auch von einer gesellschaftlichen und politischen Dynamik gekennzeichnet, bei der die Demokratie als Staatsform eine hochaktuelle Rolle spielt. Man kann den französischen Staatsmann Alexis Tocqueville daher nur bewundern, dass er mit der „Tyrannei der Mehrheit“ bereits 1840 ein vertrautes Konzept prophezeite […] Die Dekadenz des Staates – aber eben nicht staatlicher Macht – bedingt, dass kleinere Vergehen drakonischer Bestrafung unterliegen, große Verbrechen dagegen kaum mehr bewältigt werden können. 'Je ernster die Probleme, umso größer ist die Zahl der Unfähigen, die die Demokratie zu ihrer Lösung aufruft', sagt Nicolás Gómez Dávila. Die Gegenwart betont den hohen Wert des Individuums; sie sieht es im grundlegenden Antagonismus zum Totalitären. Doch die Tyrannei der Mehrheit offenbart das Gegenteil. Nicht die Gemeinschaft ist Ausgangspunkt des Kollektivs, sondern die Atomisierung. Es mutet paradox an: Freiheit und Demokratie sind Ursache des neuen Totalitarismus sanfter Prägung.“<ref>Marco Gallina: Vereinzelte sind leichter beherrschbar. Tyrannei der Mehrheit, in: Tichys Einblick vom 31.12.2021, [https://www.tichyseinblick.de/meinungen/tyrannei-der-mehrheit/ Link]</ref>
<ref>Marco Gallina: Vereinzelte sind leichter beherrschbar. Tyrannei der Mehrheit, in: Tychi's Einblick vom 31.12.2021, [https://www.tichyseinblick.de/meinungen/tyrannei-der-mehrheit/ Link]</ref>
::(siehe auch Narrative [[Totalitarismus]], [[Dekadenz]], [[Atomisierung]])
::(siehe auch Narrative [[Totalitarismus]], [[Dekadenz]], [[Atomisierung]])


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