Objektive Möglichkeit

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Autor: Andreas Kemper (Zitierhilfe)


Objektives Möglichkeit bezeichnet nach Oskar Negt das Feld der „als historisch notwendig" zu rechtfertigenden „emanzipativen", "auf die Befreiung der Menschen abzielenden Handlungen“. Dieser Begriff ist u.a. in der Arbeiter*innenbildung wichtig.

Historisches Bewusstsein und Zeitwahrnehmung von Arbeiter*innenkindern

Nach Oskar Negt haben die Erfahrungen des Arbeiterkindes Einfluss auf das Zeitbewusstsein und die Zeitwahrnehmung. Er bezieht sich dabei auf Basil Bernstein, der schreibt: „Das System der Erwartungen, oder die Zeitspanne der Antizipation ist verkürzt, so daß verschiedene Komplexe von Vorlieben, Zielen und Enttäuschungen entstehen. Diese Umwelt begrenzt die Zeitwahrnehmung des Kindes und seine Wahrnehmung in der Zeit … es gibt kein Zeitkontinuum, in das die gegenwärtige Tätigkeit eingeordnet werden kann“[1]) Auch die Erfahrungen im Arbeitsprozess würden Zeitbewusstsein und -wahrnehmung der Arbeiter und Arbeiterinnen beeinflussen und damit auch die Bildung des historischen Bewusstseins.[2]

Negt setzt die Bildungsarbeit in einen Zusammenhang mit dem historischen Bewusstsein:

„Hätten die Arbeiter ein adäquates historisches Bewußtsein, dann wäre die Bildungsarbeit überflüssig. Die entscheidende Frage ist deshalb, ob die Gesamtsituation des Arbeiters, seine realen Existenzbedingungen, Konflikte, Sprachformen, Interessen und Hoffnungen, Intentionen auf ein Bewußtsein seiner objektiven Lage und auf einen von Unterdrückung, Ausbeutung und Ungerechtigkeit befreiten Gesellschaftszustand enthalten, dessen objektive Möglichkeit und Notwendigkeit in den geschichtlich relevanten Aktionen der organisierten Arbeiterschaft immer schon vorausgesetzt ist.“[3]

Negt führt weiter aus:

„Erst wenn der Sinn der Arbeiterbildung in der doppelten Aufgabe gesehen wird, durch Erziehung zu soziologischem Denken den Arbeitern das Bewußtsein ihrer eigenen Konflikte und Handlungen zu vermitteln und zugleich 'aus den eigenen Formen der existierenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren Endzweck (zu) entwickeln', besteht die Möglichkeit, illusionäre oder auf entfremdneten Interessen beruhende Vorstellungen und Handlungen, die Erbteil der bestehenden Klassengesellschaft sind, von denjenigen zu unterscheiden, die mit der historischen Entwicklungstendenz übereinstimmen und dem einzelnen nur durch Antizipation eines freien und gerechten Gesellschaftszustandes verständlich zu machen sind.“[4]

"Antizipation eines freien und gerechten Gesellschaftszustandes"

Das Zitat, auf welches sich Negt bezieht, findet sich im Original bei Karl Marx in „Briefe aus den 'Deutsch-Französischen Jahrbüchern'[5]. Negt hat in diesem langen Satz zunächst die „doppelte Aufgabe“ der Arbeiterbildung geschildert. Wichtig erscheint mir hier die Trennung von Vergangenheit und Zukunft, bzw. Negts Unterscheidung zwischen dem „Erbteil der bestehenden Klassengesellschaft“ und dem von der „Antizipation eines freien und gerechten Gesellschaftszustandes“ verständlich gewordenen Entwicklungstendenzen.

Es wird noch genauer zu untersuchen sein, inwiefern „illusionäre oder auf entfremdete Interessen beruhende Vorstellungen und Handlungen“ der „Erbteil der bestehenden Klassengesellschaft“ sein sollen. Hierzu wird Ernst Blochs Aufsatz „Erbschaft dieser Zeit“[6] herangezogen.

Negt bezieht sich auf die Textstelle im „Achtzehnten Brumaire“ von Marx:

„Auf den verschieden Formen des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen. Die ganze Klasse schafft und gestaltet sie aus ihren materiellen Grundlagen heraus und aus den entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Das einzelne Individuum, dem sie durch Tradition und Erziehung zufließen, kann sich einbilden, daß sie die eigentlichen Bestimmungsgründe und den Ausgangspunkt seines Handelns bilden.“[7]

Marx führte diese Erklärung an, um den Unterschied der „zwei großen Interessen, worin die Bourgeoisie sich spaltet – Grundeigentum und Kapital“[8] begreifbar zu machen. Nach Negt sollten also Arbeiterbildung dieses Basis-Überbau-Verhältnis reflektieren und zwar aus den sozialen Existenzbedingungen der Arbeiterklasse heraus. Im Unterkapitel „Objektive Möglichkeit und Klassenbewußtsein“ weist er auf den christlichen Ursprung von Vorstellungen eines „gerechten Lohnes“ hin, auf den die Forderung nach „sozialer Gerechtigkeit“ - als „Leitnorm der gewerkschaftlichen Maßnahmen und Forderungen“ - oftmals reduziert wird. Die Reflexion dieser Leitnorm in der Arbeiterbildung benötige die „Kategorie der realen, objektiven Möglichkeit.[9] Die objektive Möglichkeit enthalte „Umstände, Bedingungen und praktische Mittel der Realisierung“ und unterscheide sich von „der bloß formellen, lediglich den Regeln des logischen Denkens angemessene Möglichkeit“[10].

Objektive Möglichkeit und Klassenbewusstsein

Objektive Möglichkeit ist ein Begriff, den Negt einführt, um zu fragen, welche „emanzipativen, auf die Befreiung der Menschen abzielenden Handlungen“ objektiv möglich seien und damit „einzig als historisch notwendig zu rechtfertigen“.[11] Er stellt die Frage, was „objektive Möglichkeit“ in der gegenwärtigen Gesellschaft bedeute und welche Vorstellungen die „Intention auf Klassenbewußtsein“ enthalte [12]. Negt zählt vier Ziele einer zu realisierenden konkreten Utopie auf:

  • Wirtschaftsdemokratie
  • Arbeiterselbstverwaltung
  • planmäßige Organisierung der gesellschaftlichen Produktion im Dienste realer Bedürfnisbefriedigung
  • Selbstbestimmung des Menschen in ökonomischer und politischer Hinsicht

Es sei unter den zur Zeit [wir sprechen von 1968] „gegebenen technischen, wissenschaftlichen und organisatorischen Möglichkeiten“ ausgeschlossen, vernünftige Gründe zu finden, diese Ziele als „schlechthin unrealisierbare, utopische, der 'Natur' des Menschen und der Gesellschaft widersprechende“ zu kennzeichnen. Hegel und Marx hätten den traditionellen Utopie-Begriff um den Kontext der Realisierungsbedingungen ergänzt und so in den Begriff der „objektiven Möglichkeit“ aufgenommen. Da zudem „der gesellschaftliche Reichtum ins schier Unermeßliche gewachsen sei“, könne „man sinnvoll nur noch von negativen Utopien sprechen, welche in nichts anderem bestehen als in der Beschreibung der unsinnigen Verschwendung und in dem unbestechlichen Aufweis der Verkümmerungsformen des Individuums, das unter überholten Zuständen leben muss“.[13]

Hier möchte ich auf den Begriff Klassismus zurückkommen, da der Begriff genau diese Beschreibungen der negativen Utopien impliziert. Der Begriff „Klassismus“ zielt auf diesen freien und gerechten Gesellschaftszustand, da er klassenspezifische Blockaden auf dem Weg zu diesem Zustand als falsch, als „klassistisch“ zu bezeichnen hilft, also die Differenz zwischen Wirklichem und objektiv Möglichem hinsichtlich klassenspezifischer Fragen.

Negt sieht das Klassenbewusstsein in seiner „entmythologisierten Form“ als die „Angemessenheit der Vorstellungen der Menschen an die geschichtlich bedingten objektiven Möglichkeiten der Gesellschaft“[14] Der Begriff der „klassenlosen Gesellschaft“ habe Ende der 1960er Jahre „in vieler Hinsicht einen faßbareren, konkreteren Bedeutungsinhalt“ als fünfzig Jahre zuvor, was sich auch darin zeige, dass die spätkapitalistischen Ideologie die bestehenden Gesellschaft als „klassenlos“ legitimierten.[15]

Oskar Negt greift auf George Lukács „Geschichte und Klassenbewusstsein“ zurück, auf den Abschnitt im Kapitel „Klassenbewusstsein“, wo Lukács zusammenfasst, was „Konkrete Untersuchung“ bedeutet, nämlich die „Beziehung auf die Gesellschaft als Ganzes“[16]. Erst in dieser Beziehung würde „das jeweilige Bewußtsein, das die Menschen über ihr Dasein haben, in allen seinen wesentlichen Bestimmungen“[17] erscheinen. Lukács stellt in diesem Abschnitt eine „doppelt dialektische Bestimmung des 'falschen Bewußtseins'“ fest. Denn erst in der Beziehung zum Ganzen erscheint das Bewusstsein zum einen subjektiv als „Zu-Verstehendes“, „Verständliches“, also „richtiges“, objektiv aber „an dem Wesen der gesellschaftlichen Entwicklung Vorbeigehendes“, also als „falsches Bewußtsein“[18]. Zum anderen erscheint das Bewusstsein aber auch subjektiv als die „selbstgesetzten Ziele verfehlend“ und stattdessen „unbekannte, ungewollte objektive Ziele der gesellschafltichen Entwicklung fördernd und erreichend“[19]. Es heißt dann weiter bei Lukacs: „Die Beziehung auf die konkrete Totalität und die aus ihr folgenden dialektischen Bestimmungen weisen über diese bloße Beschreibung hinaus und ergeben die Kategorie der objektiven Möglichkeit“.[20] An dieser Stelle setzt Negt an und zitiert Lukács – allerdings nicht ganz sauber, da weder Hervorhebungen, noch Auslassungen im Zitat vermerkt wurden. Im Original heißt es bei Lukács:

"Indem das Bewußtsein auf das Ganze der Gesellschaft bezogen wird, werden jene Gedanken, Empfindungen usw. erkannt, die die Menschen in einer bestimmten Lebenslage haben würden, wenn sie diese Lage, die sich aus ihr heraus auf den – diesen Interessen gemäßen – Aufbau der ganzen Gesellschaft vollkommen zu erfassen fähig wären, die Gedanken usw. also, die ihrer objektiven Lage angemessen sind. […] Die rationell angemessene Reaktion nun, die auf diese Weise einer bestimmten typischen Lage im Produktionsprozeß zugerechnet wird, ist das Klassenbewußtsein. Dieses Bewußtsein ist also weder die Summe noch der Durchschnitt dessen, was die einzelnen Individuen, die die Klasse bilden, denken, empfinden usw. Und doch wird das geschichtlich bedeutsame Handeln der Klasse als Totalität letzthin von diesem Bewußtsein und nicht vom Denken usw. des Einzelnen bestimmt und ist nur aus diesem Bewußtsein erkennbar."[21]

Hierauf bezogen argumentiert Negt, dass von einer klassenlosen Gesellschaft erst dann gesprochen werden könne, „wenn der Aufbau der Gesamtgesellschaft den emanzipativen Ansprüchen des Kampfes der ganzen bisherigen Arbeiterbewegung entspricht.“[22] Die gegenwärtige Gesellschaft, also die Gesellschaft um 1968 als „klassenlos“ zu bezeichnen, habe ihr Fundament in der „bürgerlichen Ideologie“. Negt weist auf eine Äußerung im Kapital, Bd. 1 hin (im Kapitel: „Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation“), wonach „bessere Kleidung, Nahrung, Behandlung und ein größeres Peculium das Abhängigkeitsverhältnis und die Exploitation des Sklaven“ ebenso wenig aufheben wie die des Lohnarbeiters.[23] Negt folgert daraus, dass ein Bezug der „Klassenlage und des Klassenbewusstseins auf das Ganze der Gesellschaft“ ein „Kriterium für die Arbeiterbildung“ wäre, mit dem „die tatsächlichen Vorstellungen und Handlungen der Individuen auf ihren historischen Gehalt hin“ interpretierbar und verständlich zu machen sei.[24] Eine „Organisation der Gesellschaft“ würde mit den „historischen Entwicklungstendenzen“ übereinstimmen, wenn sie die „objektiven und subjektiven Interessen der Arbeiterschaft, kollektive Selbstverwaltung des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, Aufhebung der Lohnarbeit, Beseitigung der Herrschaft des 'Kapitals' in allen Formen, der entfremdeten Arbeit, der Bildungsprivilegien usw. zu Prinzipien hat“.[25]

Konsequenzen für die Arbeiter*innenbildung

Für die Arbeiter*innenbildung heißt das zuvor gesagte für Negt zunächst, dass diese nur auf einer „autonomen Basis“[26] zu begründen sei, „denn wahrhaft mitbestimmen kann nur derjenige, der eine autonome Machtposition besitzt“[27]. Politisches Bewusstsein „sei stets Ergebnis langwieriger Erziehungsprozesse und nicht mechanisches Produkt objektiver Verhältnisse, wenn es auch gleich ebenso notwendig ist, daß sich die Realität zum Gedanken drängt“[28].

Seine vorangegangenen Erläuterungen sollten beweisen, dass „ein Begriff der Geschichte, der die Kategorie der objektiven Möglichkeit enthält, wie ein Begriff der Gesellschaft notwendig ist, in dem subjektive und objektive Interessen unterschieden werden“[29] Diese Kategorien der objektiven Möglichkeit und des objektiven Interesses hätten neben der Funktion, Handlungen und Vorstellungen von Arbeiter*innen zu deuten, die Funktion von „Lernmotivkategorien“. Die individuelle Perspektive sei wenig wirkungsvoll auf die aktuelle Lernsituation, wenn es um „eine der Befreiung von Arbeiterdasein dienende Bildung“ ginge, als die gesellschaftliche Perspektive.[30]

Einzelnachweise

  1. Bernstein, Basil (1958): Some Sociological Determinants of Perception. An Inquiry into Sub-cultural Differences, in: The British Journal of Sociology, Bd. IX, S. 168, zit. n. Negt, Oskar (1968): Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie der Arbeiterbildung, Frankfurt a.M. S.66
  2. ebd.
  3. Negt, Oskar (1968): Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie der Arbeiterbildung, Frankfurt a.M., 66f.
  4. ebd., S. 67
  5. Marx, Karl (1968): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals, MEW Bd.23, Berlin, S. 345
  6. Bloch, Ernst (1962): Erbschaft dieser Zeit. Suhrkamp: Frankfurt a. M.
  7. Marx, Karl (1960): Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW Bd. 8, Berlin, S. 139
  8. ebd., Herv. im Original
  9. Negt 1968, S. 68
  10. ebd.
  11. ebd.
  12. ebd.,S. 68f.
  13. ebd.: S. 69f.
  14. ebd., S. 70
  15. ebd.
  16. Lukács, Georg (1968): Geschichte und Klassenbewußtsein. Georg Lukács Werke, Frühschriften II, Berlin, S. 223
  17. ebd.
  18. ebd.
  19. ebd.
  20. ebd.
  21. ebd.,S. 223f.
  22. Negt 1968: 71
  23. Marx, Karl (1968): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals, MEW Bd.23, Berlin, S. 645f.
  24. Negt 1968, S. 72
  25. ebd.
  26. ebd., S. 75
  27. ebd., S. 74
  28. ebd., S. 75
  29. ebd., S. 76
  30. ebd., S. 77